„Mhmm, das gibt es schon! Ah, nicht gut genug! – Weißt du Peter, ich komm’ einfach nicht auf den zündenden Einfall.“
Mein Freund Matthias schwenkt den Rotwein in seinem Glas und hält es am Stiel gegen das Licht der untergehenden Sonne. Für einen Moment betrachtet er stumm das leuchtende Rubinrot des Weines.
„Ich komme einfach nicht auf was wirklich Gutes!“, fährt er fort, bevor ich etwas erwidern kann, „Das Meiste ist mir zu lahm. Nicht unbedingt schlecht. Aber auch nicht der Stoff, mit dem ich durchstarten kann. Dafür ist die Konkurrenz einfach zu groß und zu gut! Und wenn ich denke: ,Hey, Heureka, das ist es!’ – dann kann ich mir sicher sein, das gibt es schon.“
Matthias liebt Wein. Und er liebt es, andere Menschen an seiner Leidenschaft teilhaben zu lassen. Als Verkäufer. In der Beratung. Auch ich habe von ihm schon tolle Tipps rund um diesen Stoff, in dem ja angeblich die Wahrheit liegen soll, bekommen.
Und so plant Matthias schon seit Monaten einen eigenen YouTube-Kanal rund um seinen geliebten Wein aufzubauen. Und er plant … und plant … und plant – denn er steckt Hals über Kopf in der Mir-fehlt-die-durchschlagende-Idee-um-endlich-loszulegen-Falle …
Alter Wein in neuen Schläuchen
Matthias fühlt sich als Zuspätgekommener … Damals im Jahr 2006, als Gary Vaynerchuk seine Wine Library auf YouTube startete, da hatte es weltweit vielleicht nur eine Handvoll solcher Channels gegeben. Aber heute? Heute kannst du aus Millionen von Videos auf Tausenden von Kanälen wählen.
An Matthias nagt der Gedanke, dass alle guten Ideen schon längst vergeben sind. Er denkt: ,Ohne gute Idee kann ich nicht loslegen. An der guten Idee hängt alles … An meiner eigenen guten Idee!’ Und so hängt er in einer Es-gibt-nichts-Neues-unter-der-Sonne-Schleife fest. Alles war schon da … Und was bleibt für mich übrig? Nur alter Wein in neuen Schläuchen …
Matthias ist ein Gefangener seines eigenen Anspruchs an Qualität. Um genau zu sein: seines Anspruchs an die Qualität seiner Ideen. So konnte es nicht weitergehen. Denn aus meiner Warte heraus gibt er Ideen zu viel Macht. ‚Ohne eine perfekte Idee ist alles nichts …‘ – so denkt Matthias. So denkt aber kein Rebel Mind. Es gibt nichts Neues unter der Sonne? Na und, seitdem König Salomon in der Bibel mit dem Spruch um die Ecke kam, ist einiges passiert – und eine Menge spannendes Neues ist geschehen und geschaffen worden.
Wer darauf wartet, die perfekte Idee zu finden, die es so noch nie in der Geschichte der Menschheit gegeben hat, verliert wertvolle Zeit – spannende neue Ideen entstehen oft erst, wenn du den ersten Schritt wagst.
Loblied auf schlechte Ideen
Eine meiner Lieblingsparabeln über kreative Arbeit erzählt James Clear in seinem Buch „Die 1%-Methode“ (im Original „Atomic Habits“):
„Am ersten Unterrichtstag teilte Jerry Uelsmann, Professor an der University of Florida, seine Studenten der Filmfotografie in zwei Gruppen auf.
Die Studenten auf der linken Seite des Klassenzimmers teilt er der „Quantitätsgruppe“ zu. Die Benotung ihrer Arbeiten erfolgt nach der Menge der geleisteten Arbeit. Am letzten Unterrichtstag, so Professor Uelsmann, würde er die Anzahl der von jedem Studenten eingereichten Fotos zusammenzählen. 100 Fotos würden mit A bewertet, 90 Fotos mit B, 80 Fotos mit C und so weiter.
Alle auf der rechten Seite des Raums gehören derweil zur „Qualitätsgruppe“. Sie werden nach der Qualität ihrer Arbeit benotet. Die Studenten in dieser Gruppe bekommen die Aufgabe, während des Semesters nur ein Foto zu produzieren, aber um die Bestnote zu bekommen, muss es ein perfektes Bild sein.
Das Ergebnis am Ende des Semesters ist ebenso augenöffnend wie überraschend: Die besten Fotos wurden allesamt von der Quantitätsgruppe gemacht. Während des Semesters waren diese Studenten damit beschäftigt, Fotos zu machen, mit Komposition und Beleuchtung zu experimentieren, verschiedene Vorgehensweisen auszuprobieren und aus ihren Fehlern zu lernen. Während sie Hunderte von Fotos machten, verfeinerten und verbesserten sie ihre Fähigkeiten.
Währenddessen war die Qualitätsgruppe einzig und allein mit dem einen, absolut perfekten Bild beschäftigt. Am Ende hatten die Studenten in dieser Gruppe für ihre Bemühungen wenig vorzuweisen, außer unbestätigten Theorien und mittelmäßigen Fotos.“
Wenn das kein Grund dafür ist, ein Loblied auf schlechte Ideen anzustimmen, weil diese der Weg sind, um zu B-E-S-S-E-R-E-N Ergebnissen zu kommen …
Quantität führt zu Qualität
Die Moral dieser Parabel, „Du brauchst nicht mehr gute Ideen, sondern mehr schlechte Ideen“, kann ich aus meiner eigenen Praxis nur bestätigen: vor allem, wenn du meinen Output als Autor betrachtest.
Seit 20 Jahren gebe ich regelmäßig einen Newsletter mit Anja heraus. Seit 20 Jahren schreibe ich regelmäßig Beiträge wie diesen. Seit 20 Jahren schreibe ich Bücher. Und die Häufigkeit meiner Arbeit, die Frequenz meines schreibenden Tuns, hat tatsächlich zu besseren Ergebnissen geführt. Quantität führt zu Qualität.
Ein Gedanke, den auch Professor Dean Simonton bestätigt, der sich sein Leben lang mit kreativen Höchstleistungen beschäftigt hat (und dessen produktives Schaffen zu 550 Publikationen und 14 Büchern geführt hat). In seinem Buch „The Genius Checklist“ lautet seine wichtigste Empfehlung, dafür zu sorgen, dass „jede Arbeit minimale Standards erfüllt, ohne dabei alle Erfolgskriterien zu optimieren.“ Dies ist, so die Überzeugung von Professor Simonton, die konsequenteste Strategie, um ein Werk zu schaffen, das Bestand hat.
Beispiele und Vorbilder? Unternehmerlegende Richard Branson soll über 250 Unternehmen gegründet haben. Prince soll über 1.000 Songs geschrieben und Johann Sebastian Bach jede Woche eine Kantate komponiert haben. Thomas Edison meldete 1.039 Patente an. Albert Einstein schrieb 240 wissenschaftliche Abhandlungen. Picasso hat 1.800 Gemälde, 1.200 Skulpturen, 2.800 Keramiken und 1.000 Zeichnungen geschaffen …
Ich vermute, keiner von ihnen hat gedacht: Es gibt nichts Neues unter der Sonne? Okay, dann brauche ich gar nicht erst anzufangen! Sie haben mit Lust am kreativen Schaffen losgelegt und sich vor schlechten Ideen nicht gefürchtet …
Die Geschichte hinter jeder guten Idee
Damit es Missverständnisse gibt: Quantität mag zwar die Grundlage sein, doch Qualität ist das eigentliche Ziel.
Aber Quantität fördert Qualität aus drei Gründen und sorgt so dafür, dass du nicht wie Matthias in die „Mir-fehlt-die-durchschlagende-Idee-um-endlich-loszulegen-Falle“ tappst:
- Quantität bildet die Grundlage zum Üben, wodurch du deine Fähigkeiten verbessern kannst.
- Quantität hält dich motiviert, da du so schneller wieder neue Versuche starten kannst und mit jedem Versuch näher an dein Ziel kommst.
- Erst durch Quantität entsteht der Freiraum zum Experimentieren, wodurch wiederum herausragende Ergebnisse ans Licht kommen.
Anstatt also zu sagen: „Ich stecke fest, mir fällt nichts Gutes ein“ oder „Es muss erst perfekt sein, bevor ich den ersten Schritt in die Öffentlichkeit wage“, wie es sich Matthias wieder und wieder selbst sagt, ist es viel effektiver, wenn du dir sagst: „Ich habe das hier fertiggestellt, und jetzt muss ich es besser machen.“ Oder vielleicht: „Ich habe das dort fertiggestellt, und ich kann es aktuell nicht besser machen, aber jetzt bin ich bereit, etwas Neues zu machen, denn ich habe im Prozess sehr viel gelernt.“
Für Matthias – und euch – lohnt es sich also, den inneren Rebellen am Ast des eigenen Perfektionsanspruchs sägen zu lassen.
Denn am Ende des Tages ist genau das die Geschichte jeder I-N-N-O-V-A-T-I-O-N in der Geschichte der Menschheit. Die Geschichte hinter jeder guten Idee, hinter jedem neuen Projekt, hinter jedem erfolgreichen Restaurant, hinter jedem Buchprojekt, hinter jeder Theateraufführung – und hinter jedem YouTube-Kanal: Es gab viele schlechte Ideen. Und dann gab es eine bessere Idee.
Wenn sich also jemand bei euch beschwert, dass er keine guten Ideen hat, dann fragt ihn doch einfach mal nach all seinen schlechten Ideen. Sich mit seinen schlechten Ideen anzufreunden, ist ein nützlicher Weg nach vorn. Viele schlechte Ideen sind nicht der Feind. Sie sind wichtige Schritte auf dem Weg zum Besseren.