Die Kraft der Stille: Mit Pausen punkten

Bei der Uraufführung muss es das Londoner Publikum von den Stühlen gerissen haben. März 1792, Premiere eines der größten klassischen Hits: Joseph Haydns Sinfonie Nr. 94 in G-Dur. Das Orchester setzt zum zweiten Satz an. Piano. Ganz leise. Dann noch einmal acht Takte, noch leiser, das Thema nur noch von den Geigen gezupft. Fast schon Stille. Ich stelle mir vor, wie bei dem einen oder anderen Konzertbesucher die Augenlider schwer werden. Zupf, zupf, Stille – und dann der Moment, der dem Musikstück bis heute seinen Namen gibt: Der Paukenschlag zusammen mit Orchester, der alle Zuhörer aufhorchen lässt.

Die Komposition aus Stille

160 Jahre später, im August 1952, kam es zu einer musikalischen Stille, die einen Skandal auslöste: John Cages Komposition 4′33″ wurde uraufgeführt [VIDEO], ohne dass das Publikum wusste, was passieren würde: nämlich 4 Minuten und 33 Sekunden Stille.

Der Pianist sitzt am Flügel. Er schließt den Deckel der Klaviatur: der erste Satz des Stückes beginnt, ohne dass eine Note erklingt. Dann öffnet er den Deckel: zweiter Satz. Wieder Stille. Deckel zu, dritter Satz in Stille. Nach gestoppten 4 Minuten und 33 Sekunden beendet er das Stück, indem er den Deckel öffnet und aufsteht. „Die Leute begannen, miteinander zu tuscheln, einige begannen zu gehen“, so der Komponist. Die Leute hielten die Stille nicht aus. Sie war ihnen unangenehm.

S-T-I-L-L-E kann wirklich herausfordernd sein. Und ungemein nützlich, wenn ihr, wie es Haydn tat, eine durchschlagende Wirkung erzielen wollt.

In einer Welt-des-Alles-immer-sofort-Zack-Zack, in der ihr Antworten, Reaktionen, Feedbacks in Ping-Geschwindigkeit liefern müsst, ist das Innehalten in Stille die Strategie eines Rebel Mind, um wirksamer zu agieren, besser zu führen – auch sich selbst.

Die Strategie der unangenehmen Stille

Haydn und Cage waren Rebels der Musikwelt, die mit Hörgewohnheiten und Erwartungen spielten. Aber auch in der Geschäftswelt gibt es hervorragende Beispiele für die Wirksamkeit bewusster Stille.

Ein berühmter Moment der Stille war der von Steve Jobs auf der Worldwide Developers Conference von Apple im Jahr 1997  [VIDEO]. Jobs kommt zum Ende seines Vortrags und beantwortet Fragen. Ein Mann tritt ans Mikrofon und beginnt mit den schmeichelhaften Sätzen: „Sie sind ein kluger und einflussreicher Mensch…“ – um dann die Bombe platzen zu lassen: „Es ist traurig und offensichtlich, dass Sie bei einigen der von Ihnen angesprochenen Punkte keine Ahnung haben, worüber Sie sprechen … und dann können Sie uns vielleicht erzählen, was Sie persönlich in den letzten sieben Jahren gemacht haben.“

Und wie reagiert Jobs darauf? Mit einer Pause. Er hält inne, sitzt still da und denkt nach. Eine unangenehme-ich-weiß-nicht-wo-ich-hinschauen-soll-Stille, die dem Publikum (man hört es raunen) wie eine Ewigkeit vorkommt (und in Wirklichkeit etwa 10 Sekunden dauerte). Jobs nimmt einen Schluck Wasser und denkt über die Kritik und die Frage nach.

Unangenehmen Stille = Emotionale Intelligenz

Ich finde das cool, weil ich das Gegenteil bin. Ich schieße schnell. Spontan. Sofort. Und früher fand ich das gut. Ich fand das clever. Ich dachte, ich zeige damit Souveränität und Stärke.

Heute denke ich anders darüber. Stille ist die Antwort auf die Frage: „Wie kann ich souverän agieren und der Welt meinen Stempel aufdrücken?“ Genauer gesagt: unangenehme Stille.

Und deshalb habe ich mir vorgenommen, eine einfache Regel zu befolgen: Anstatt dem Ich-hau-jetzt-mal-aus-dem-Handgelenk-einen-raus-Peter freien Lauf zu lassen und auf herausfordernde Fragen vorschnell zu antworten, nehme ich mir Z-E-I-T zum Nachdenken. Kein kurzes Zögern, natürlich auch keine 4 Minuten und 33 Sekunden, sondern bewusst 10 oder gar 20 Sekunden Stille. Damit schaffe ich ganz gezielt eine ungewohnte Pause, die auf meinen Gesprächspartner manchmal als unangenehme Stille wirken kann, weil diese gewollte Pause unserem an Schnelligkeit gewöhnten Kommunikationsstil widerspricht.

Die Strategie der unangenehmen Stille erscheint mir in solchen Momenten als ein Werkzeug emotionaler Intelligenz. Sie ermöglicht es, Gedanken und Gefühle auszubalancieren, statt nur zu reagieren. Und sie ermöglicht es, nach dem Nachdenken wieder in den Lauf der Dinge einzugreifen, mit einer Antwort, die wie ein Paukenschlag kommt, die es in sich hat, weil sie durchdacht ist.

 

Have a break, have a Kanzler

Tim Cook und Jeff Bezos, die Chefs von zwei der wertvollsten Unternehmen der Welt, scheinen auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Persönlichkeiten zu sein. Was sie jedoch verbindet, ist der Einsatz strategischer Pausen.

Bei Apple ist Tim Cook für diese Pausen berühmt. Das Fortune-Magazin schrieb: „In Meetings ist er für lange, unangenehme Pausen bekannt, in denen man nur das Rascheln der Verpackung seiner Energieriegel hört, die er ständig isst.“

Bei Amazon ist Jeff Bezos für seinen Einsatz methodischer Stille berüchtigt. Zu Beginn von Meetings wurde bis zu 30 Minuten lang schweigend ein Memo gelesen. Teilnehmer konnten sich vertiefen, Notizen machen – ungestört. In Stille. Für viele eine unangenehme Stille. Bezos dazu: „Sie sind es einfach nicht gewohnt, still in einem Raum zu sitzen und mit einer Gruppe von Führungskräften gemeinsam zu lernen.“ Doch diese Stille garantiert – so die Erfahrung – die ungeteilte Aufmerksamkeit aller.

Ein deutscher Politiker, der für seine langen Pausen bekannt war, war der deutsche Bundeskanzler und spätere „Elder Statesman“ Helmut Schmidt. Schmidt nahm sich oft Zeit, seine Gedanken zu formulieren und machte lange Pausen, bevor er auf Fragen antwortete. Dies trug zu seinem Ruf als nachdenklicher und analytischer Staatsmann bei.

Drei Beispiele dafür, dass das bewusste Setzen von Pausen, das Schaffen von Stille – und auch das Aushalten dieser Stille, was wirklich geübt werden muss – es ermöglicht, sich von äußerem Druck zu befreien und eigene A-K-Z-E-N-T-E zu setzen.

Vorteile unangenehmer Stille

Wenn wir uns in der unangenehmen Stille üben, dann biegen wir auf den Pfad eines Rebel Minds ein. Denn  …

… dann verschaffen wir unserem Hirn wertvolle Denkzeit: Ihr könnt verschiedene Blickwinkel einnehmen, eine artikuliertere Antwort formulieren oder sogar den Mut sammeln, ein sensibles Thema anzusprechen. Stille sorgt für tiefgründigere und durchdachtere Antworten.

… dann halten wir auch selbst mal den Mund und geben dem Zuhören eine Chance: Eine lange Pause kann den Fokus vom ständigen Reden zum aktiven Zuhören verlagern. Das zeigt eurem Gegenüber Respekt und schafft Raum für einen echten gegenseitigen Gedankenaustausch.

…dann kommen wir zu besseren Entscheidungen: Weil euch längere Pausen die Zeit geben, alle Aspekte und möglichen Konsequenzen zu bedenken, bevor ihr antwortet.

… dann stärken wir unsere eigene Souveränität: Der Druck, Pausen füllen zu müssen, kann Angst machen. Wenn ihr aber lernt, euch mit der Stille wohlzufühlen, kann das sehr bestärkend sein und eure Souveränität und euer Selbstvertrauen stärken. Es dokumentiert euer Vertrauen in eure Fähigkeit, kritisch zu denken und nachdenklich zu antworten, anstatt sich gezwungen zu fühlen, nur um des Redens willen zu reden.

… dann hat das, was wir sagen, einfach mehr Gewicht. Was ihr sagt, ist bedeutender. Weil ihr nicht einfach etwas raushaut, sondern mit Sinn und Verstand und wortgewandt auf den Punkt kommuniziert. Das tut euch persönlich gut. Das tut euch im Business gut. Weil ihr bewusster und wirkungsvoller agiert und eurem Leben und Umfeld euren Stempel aufdrückt.

 

Was sagt ihr also dazu, dass ich euch zu einer solchen strategischen Stille anstiften möchte? Zu einer unangenehmen Stille, zu einem kommunikativen Kontrapunkt von Pause und Paukenschlag?

Ich jedenfalls habe mir vorgenommen, beim nächsten Mal dem Impuls zu widerstehen, auf herausfordernde Fragen sofort zu antworten. Die unangenehme Stille zu nutzen und nachzudenken, bevor ich mit einer Antwort herausplatze.

Seid ihr dabei?

 

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